Veranstaltungsreihe „Flucht, Aufnahme und Erinnerung“

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Auch 2023 organisierte die Dokumentationsstelle Gnadenkirche Tidofeld eine Veranstaltungsreihe, die ohne die finanzielle Unterstützung der PfD nicht hätte durchgeführt werden können. Die erreichten Teilnehmerzahlen (insgesamt ~ 250) und die Diskussionskultur bezeugen den Erfolg des Projektes. Wir bedanken uns bei Lennart Bohne für den folgenden Projektbericht.


Abschlussbericht, Veranstaltungsreihe 2023 „Flucht, Aufnahme, Erinnerung“

Durch Förderung der Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Aurich als Teil des Bundesprogramms „Demokratie leben“ des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend war es der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld möglich, im Jahr 2023 erneut Veranstaltungen in der Reihe „Flucht, Aufnahme, Erinnerung“ im Sinne der historisch-politischen Bildungsarbeit zu realisieren.

Ziel war es, in Form verschiedenartig geprägter Veranstaltungen wie Vorträgen, Lesungen oder zeitgeschichtlichen Fahrradtouren die Migrationsgeschichte in Deutschland seit 1945 aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und den „Normalfall Migration“ darzustellen. In diesem Sinne wirkte die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld als Dialogmedium in die Gesellschaft hinein: Rückblicke wurden ermöglicht, Vergleiche wurden gezogen und Debatten mit Blick auf Gegenwart und Zukunft geführt.

1. Veranstaltung

»Das Erbe der Kriegsenkel«. Lesung mit Beststellerautor Matthias Lohre

7. März 2023, ~ 60 Besucherinnen und Besucher

In seinem Buch „Das Erbe der Kriegsenkel – Was das Schweigen der Eltern mit uns macht“ erforschte der Journalist und Autor Matthias Lohre am Beispiel seiner eigenen Familiengeschichte, auf welche Weise NS-Erziehung, Zweiter Weltkrieg und die Nachkriegszeit bis heute auf Menschen nachwirken. Mit seiner persönlichen Geschichte zeigt er exemplarisch, mit welchen Nöten die Töchter und Söhne der Kriegskinder bis heute kämpfen: Die nie verarbeiteten traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern führen bei ihnen zu mangelndem Selbstwertgefühl, extremen Schuldgefühlen und diffuser Angst. Sie fliehen oft ihr Leben lang – ohne zu wissen, wovor. Ihnen hat sich eine Katastrophe eingeprägt, die sie selbst nicht erlebt haben.

Im Anschluss an seine Lesung mit rund 60 Gästen ging Lohre auf die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven der an der Abschlussdiskussion beteiligten ein.

Blick in den Veranstaltungssaal mit dem Autor Matthias Habberzetti (Veranstaltung 2).

2. Veranstaltung

»Grafiker, Buchkünstler, Stiller Held« – Das Lebenswerk von Werner Klemke

Vortrag mit Matthias Haberzettl (Pirckheimer Gesellschaft)

23. Mai 2023, ~ 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer

 Es gibt wohl kaum einen Bürger der ehemaligen DDR, der nicht bereits ein von Werner Klemke (*1917) gestaltetes Buch in den Händen gehalten hat. Seine Illustrationen waren ebenso vielfältig wie die Publikationen, in denen sie erschienen: Kinder- und Märchenbücher, Schul- und Lehrbücher, Gedichtbände, Liederbücher, Romane. Darüber hinaus mannigfaltige weitere Gebrauchsgrafik: Briefmarken, Magazine und Zeitschriften, Bühnenbilder, Plakate, Prospekte, Schallplattenhüllen. Er war Professor für Buchgrafik und Typographie an der Hochschule für Bildende und Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee und Mitglied der Akademie der Künste. 1982 erhielt er den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold. Nach seinem Tod 1994 folgte Werner Klemkes Beisetzung in einem Ehrengrab der Stadt Berlin. Heute erinnern eine Berliner Tafel und eine nach ihm benannte Parkanlage in Weißensee an Werner Klemkes Lebenswerk.

Dass das Werk von Werner Klemke jedoch nicht nur in der ehemaligen DDR Anklang fand, sondern bis heute weite Beachtung findet, zeigte der ausgewiesene Klemke-Kenner Matthias Haberzettl in seinem Vortrag. Dabei nahm er nicht nur den Künstler, sondern auch den Menschen Werner Klemke in den Blick, der zeitlebens nicht über seine Rolle im Widerstand während der Zeit des Nationalsozialismus sprach: Als Wehrmachtsoldat auf einer Schreibstube fälschte Werner Klemke Papiere für zahlreiche niederländische Jüdinnen und Juden und trug somit zu deren Überleben bei.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Werner Klemke im Lager Tidofeld interniert. In dieser Zeit zeichnete er das Grimm-Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“, das von der Norder Druckerei Siebolts im Steindruckverfahren vervielfältigt und wohl zum ersten deutschen Kinderbuch der Nachkriegszeit wurde.

Dr. Tim B. Müller während des Vortrags (Veranstaltung 3).

3. Veranstaltung

»Bibelforscher – unglaublicher Mut«
Vortrag mit Dr. Tim B. Müller (Verband Deutscher Sinti und Roma und Arnold liebster-Stiftung)

21. Juni 2023, ~ 80 Besucherinnen und Besucher

Nur wenig ist der Öffentlichkeit über die Verfolgung und den Widerstand der Zeugen Jehovas im nationalsozialistisch beherrschten Europa bekannt.

Der Historiker Dr. Tim B. Müller gab einen Überblick über die Forschung und skizzierte die wichtigsten Stationen dieser Verfolgungsgeschichte: Die christliche Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, die sich auch Internationale oder Ernste Bibelforscher nannte, wurde in der Zeit des Nationalsozialismus systematisch verfolgt. Als Einzelne und als Gruppe leisteten Zeugen Jehovas religiösen Widerstand gegen die NS-Gewaltherrschaft: Sie verweigerten den Hitlergruß, die Mitgliedschaft in NS-Organisationen sowie die Beteiligung an Krieg, Gewalt und Rüstungsproduktion. Sie solidarisierten sich mit anderen Opfergruppen und klärten öffentlich über den verbrecherischen Charakter des Regimes auf.

Fast 14.000 Zeugen Jehovas wurden in Europa inhaftiert, über 4.200 in Konzentrationslagern, wo sie mit einem »lila Winkel« stigmatisiert wurden. Sie stellten auch die größte Gruppe von Kriegsdienstverweigerern im Nationalsozialismus. Ihr Schicksal trug wesentlich zur Verankerung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bei.

Mehr als 80 Besucherinnen und Besucher verfolgten den Vortrag. Die sich anschließende Frage- und Diskussionsrunde offenbarte zahlreiche historische wie aktuelle Perspektiven.

Während der Fahrradtour (Veranstaltung 4).

4. Veranstaltung

»Auf den Spuren der ersten Siedler«
Drei zeitgeschichtliche Fahrradtouren durch Leybuchtpolder

21. Juli 2023, 11. August 2023 und 8. September 2023, jeweils 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Nachdem die im vergangenen Jahr von Helmut Fischer geführten zeitgeschichtlichen Fahrradtouren durch Leybuchtpolder ein voller Erfolg waren, haben sich die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld und die Dorfgemeinschaft Leybuchtpolder erneut mit Helmut Fischer zusammengetan, um auch in diesem Jahr wieder einzuladen.

Unter der Überschrift „Auf den Spuren der ersten Siedler“ brachte Helmut Fischer den Interessierten die einzigartige Besiedlungsgeschichte des geologisch jüngsten Dorfes der Bundesrepublik Deutschland näher. Im Dorfgemeinschaftshaus „Lüttje Kark“ wurde zur Einstimmung zunächst eine Filmpräsentation gegeben: Historische Fotos und Bewegtbildaufnahmen belegten die menschlichen Mühen, die bei der Eindeichung der rund 1.000 Hektar großen Leybucht zwischen 1947 und 1952 erforderlich waren. Es waren insbesondere Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten und mittellose Einheimische, die darauf hofften, auf dem neu gewonnenen Land eine Siedlerstelle zu erhalten. Kurz zuvor hatte das Bau- und Domänenamt der Stadt Norden um Siedlungswillige geworben.

Auf der sich anschließenden rund 90-minütigen Fahrradtour durch den Ortsteil vergegenwärtigte Helmut Fischer den Zuhörern die Dimensionen des gigantischen Landnahmeprojekts: „Dor was nix als Wasser, Klei un` Kluten.“ Bei weiteren Stopps auf historischem Boden wurde deutlich, dass aber auch die anschließende Besiedlung des Polders mühsam war. Fischer stellte unterschiedliche Lebensgeschichten vor und zeigte, dass viele Menschen aus Behelfsheimen, Notunterkünften und Baracken kommend, in Leybuchtpolder endlich wieder ein Zuhause fanden. Für viele von ihnen wurde Leybuchtpolder zur zweiten Heimat.