Lennart Bohne, seit einem Jahr Mitglied im Begleitausschuss der „Partnerschaft für Demokratie“ (PfD), leitete das von der PfD geförderte Projekt „Flucht und Vertreibung“. Die Reihe war inhaltlich wie auch bezüglich der Zahl der Besucher*innen ein Erfolg. Im Folgenden lassen wir den Projektbericht von Herrn Bohne sprechen:
Zielsetzung
Durch Förderung der Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Aurich als Teil des Bundesprogramms „Demokratie leben“ des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend war es der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld möglich, im Jahr 2018 die vier- bzw. fünfteilige Veranstaltungsreihe „Flucht, Aufnahme, Erinnerung“ zu realisieren.
Ziel war es, in Form verschiedenartig geprägter Veranstaltungen wie Vorträgen, Zeitzeugengesprächen oder Präsentationen von Videointerviews die Migrationsgeschichte in Deutschland seit 1945 aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und den „Normalfall Migration“ darzustellen. In diesem Sinne wirkte die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld als Dialogmedium in die Gesellschaft hinein: Rückblicke wurden ermöglicht, Vergleiche wurden gezogen und Debatten mit Blick auf Gegenwart und Zukunft geführt.
Erste Veranstaltung am 15. März 2018, Besucherzahl 34: „Deutsch, aber anders!“ Integration und Identitätsbildung der Deutschen aus Russland
Die Auftaktveranstaltung bestritt Herr Kornelius Ens, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. In seinem Vortrag „Deutsch, aber anders!“ berichtete er über die Integration und Identitätsbildung der Deutschen aus Russland.
Über 250 Jahre Geschichte sind das, worauf die russlanddeutsche Gemeinschaft zurückblicken kann. Und sie bietet als Teil deutscher Geschichte eine Menge Raum für spannende Einblicke und interessante Erzählungen.
Dabei ist feststellbar: Die alltäglich erlebte kommunistische Diktaturerfahrung prägte die Erinnerungskultur der Zugewanderten nachhaltig und generationenübergreifend. Angesichts der etwa 2,4 Millionen Bundesbürger mit russlanddeutschem Migrationshintergrund stellt dies einen erheblichen Teil gesamtdeutscher Erinnerung dar und ist hochgradig integrationsrelevant.
In seinem Vortrag lieferte Kornelius Ens einen detaillierten Einblick in die russlanddeutsche Erinnerungskultur und thematisierte auch die Herausforderungen aus Sicht des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte.
Zweite Veranstaltung am Donnerstag, 24. Mai 2018, Besucherzahl 47: „Saigon – Friedland – Norddeich“ Flucht, Ankunft und Integration der vietnamesischen Bootsflüchtlinge – Ein Zeitzeugengespräch mit Linda Phuong Nguyen und Roman Siewert
Hunderttausende Vietnamesen waren ab Mitte der 1970er Jahre in Folge des Vietnamkrieges gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Unzählige Menschen fanden dabei als Bootsflüchtlinge den Tod im Südchinesischen Meer. Diejenigen, die es schafften, sahen sich einer ungewissen Zukunft gegenüber. Während der Großteil der Flüchtlinge von den USA und Frankreich aufgenommen wurde, kamen ab den späten 1970er Jahren auch etwa
38.000 Vietnamesen in die BRD. Rund vierzig Jahre später wird aus Sicht der Aufnahmeländer die Integrationsgeschichte der Vietnamesen als Erfolgsgeschichte erzählt.
In unserem Zeitzeugengespräch mit Linda Phuong Nguyen und Roman Siewert gAben zwei Protagonisten der Zeit einen Rückblick aus persönlicher Perspektive. Die 1950 in Saigon geborene Linda Phuong Nguyen erreichte nach der gemeinsamen Flucht mit ihrem fünfjährigen Sohn Vu Mitte September 1979 schließlich Norden-Norddeich. Dort traf sie auf Roman Siewert, der als ehemaliger Leiter des Sozialwerks Nazareth die Ankunft von mehr als 3000 vietnamesischen Flüchtlingen begleitete.
Dr. Matthias Stenger, Leiter des Ostfriesischen Teemuseums Norden und Kurator der Sonderausstellung „Von Vietnam nach Ostfriesland“, moderierte die Erinnerungen an Flucht, Aufnahme und Integrationsprozess dieser – auch für die Stadt Norden – besonderen Flüchtlingsgruppe.
Dritte Veranstaltung am Donnerstag, 20. September 2018, Besucherzahl 98: „Herzlich willkommen?!“ Erfahrungswelten von Vertriebenen in Deutschland nach 1945 – Ein historischer Rückblick
Dr. Andreas Kossert, Mitarbeiter der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, sprach in seinem Vortrag über Erfahrungswelten von Vertriebenen in Deutschland nach 1945 und lieferte einen historischen Rückblick.
Die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist lange als Erfolgsgeschichte und als Beispiel für Solidarität in der
»Stunde Null« erzählt worden. Doch jede Geschichte hat zwei Seiten. Auf die Ablehnung und Anfeindungen, denen sich die Neuen durch die Alteingesessenen ausgesetzt sahen, hat der Historiker Andreas Kossert in seinem Bestseller »Kalte Heimat« verwiesen. Zwar sind Bilder – etwa von der Flucht aus Ostpreußen – medial häufig wiederkehrende Motive, doch welche mentalen Spuren haben die Erfahrungen von Krieg, Flucht und Heimatverlust in der deutschen Gesellschaft hinterlassen? Dieser Frage ging Kossert in seinem Vortrag nach und unternahm den Versuch, diese Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft zu verorten. Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen gewann das historische Beispiel eine besondere Bedeutung.
Prof. Bernhard Parisius, wissenschaftlicher Leiter der Dokumentationsstätte, ging in seiner Einführung auf die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in Ostfriesland am Ende des Zweiten Weltkriegs ein und gab Antworten auf die Frage, wie diese die Region geprägt haben.
Die vierte Veranstaltung am Freitag, 21. September 2018, Besucherzahl130, war thematisch analog dem vierten Vortrag. Am Freitagvormittag hielt Herr Dr. Andreas Kossert einen ähnlich gearteten Vortrag vor der gesamten Jahrgangsstufe 10 des Ulrichsgymnasiums Norden sowie jeweils zwei Deutsch und Geschichte Leistungskursen.
Der Vortrag ging inhaltlich jedoch mehr auf Flucht im Generellen ein und hat den Versuch unternommen unter Einbezug der Schüler*innen die Migrationsgeschichte in Deutschland vergleichend zu untersuchen.
Fünfte Veranstaltung am Donnerstag, 15. November 2018, Besucherzahl 57: „Da hat mers glernt, das Beten“ Ein lebensgeschichtliches Videointerview mit der Donauschwäbin Maria Rimpf. Präsentation und Zeitgeschichtliche Einordnung von Georg Frey
Maria Rimpf, geborene Schieszl, wurde 1946 im Alter von zwanzig Jahren mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und ihren Geschwistern aus dem donauschwäbischen Dorf Üröm bei Budapest in Ungarn vertrieben. Im Alter von 88 Jahren, zwei Jahre vor ihrem Tod, führte Barbara Kurowska von der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung Berlin mit ihr ein Zeitzeugengespräch. Darin erzählt Maria Rimpf vom Leben in ihrem Heimatdorf, von den traumatischen Erlebnissen beim Vordringen der Roten Armee, von der Vertreibung durch die Ungarn, von der schwierigen Anfangszeit auf der Schwäbischen Alb in Giengen an der Brenz mit ihrem Mann Johann Rimpf, ebenfalls vertrieben aus dem donauschwäbischen Ort Neudorf in der Batschka im heutigen Serbien. Im Vergleich zu den Schicksalen etwa der aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland geflüchteten oder vertriebenen Deutschen sind die Lebenserfahrungen von vertriebenen Donauschwaben viel seltener erzählt.