Herr Lennart Bohne, Leiter der Dokumentationsstelle Gnadenkirche Tidofeld und Mitglied des Begleitausschusses (Bga) der „Partnerschaft für Demokratie“, schrieb uns den folgenden Projektbericht über die Veranstaltungsreihe „Flucht, Aufnahme, Erinnerung“. Der Bga hatte Anfang 2019 über das Projekt diskutiert und einstimmig eine finanzielle Unterstützung beschlossen.
Ziel der Veranstaltungsreihe war es, in Form verschiedenartig geprägter Veranstaltungen wie Vorträgen, Fotoausstellungen und Zeitzeugengesprächen die Migrationsgeschichte in Deutschland seit 1945 aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und den „Normalfall Migration“ darzustellen. In diesem Sinne wirkte die „Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld“ als Dialogmedium in die Gesellschaft hinein: Rückblicke wurden ermöglicht, Vergleiche wurden gezogen und Debatten mit Blick auf Gegenwart und Zukunft geführt.
- Veranstaltung am Dienstag, 22. Oktober 2019 (Besucherzahl 84; Vortrag und Fotoausstellung): „Retten statt reden – Seenotrettung an Europas Außengrenzen“
Fotoausstellung:
Vom 15. Oktober bis zum 15. November 2019 hat die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld die Fotoausstellung „Retten statt reden – Seenotrettung an Europas Außengrenzen“ präsentiert. Die Fotoausstellung war eine Leihgabe der NGO Sea-Watch und dokumentiert die Arbeit und den Ablauf eines Rettungseinsatzes der Organisation an Bord des Schiffes Sea-Watch 3 im Jahr 2018. Begleitend wurden Exponate gezeigt, die über die NGO Boarderline Europe bereitgestellt wurden und symbolisch für die Flucht über das Mittelmeer stehen.
Mehr als 25.000 Menschen starben zwischen 2014 und 2018 weltweit auf der Flucht – über die Hälfte von ihnen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen. Laut UNO-Flüchtlingshilfe ertranken allein 2018 mehr als 2300 Menschen im Mittelmeer. Die Dunkelziffer dürfte dabei noch weitaus höher liegen. Insbesondere zwischen Libyen sowie Malta und Italien verdreifachte sich die Todesrate laut UN-Flüchtlingshilfswerk im Jahr 2018. Höchstwahrscheinlich hängt die Steigerung der Todesrate mit den Einschränkungen der Such- und Rettungsmissionen in Zusammenhang, erklärte das Flüchtlingshilfswerk. Insgesamt sanken die Zahlen der Menschen, die über das Mittelmeer flohen, von etwa 172.000 im Jahr 2017 auf 117.000 im Jahr 2018.
Zivile Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch, die in der SAR-Zone im Mittelmeer operieren, sind nach Einschränkungen der offiziellen Rettungsmissionen nicht in der Lage die Kapazitäten der staatlichen Behörden auszugleichen. Zudem wird die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen seit Monaten behindert, verunglimpft und kriminalisiert und fand mit der Verhaftung der Kapitänin Carola Rackete auf der Sea-Watch 3 im Sommer 2019 durch italienische Behörden ihren vorläufigen Höhepunkt. Währenddessen sind bis Ende September 2019 bereits 669 Menschen ertrunken, Dunkelziffer unbekannt.
Die Fotoschau des Einsatzes stellt die Menschen und ihre Würde in den Mittelpunkt der Betrachtung. Dies bleibt im öffentlichen Diskurs oftmals außen vor. In diesem Sinne machen die Bilder nicht lediglich nachdenklich, sie appellieren zum Handeln.
Vortrag:
Im Rahmen des Begleitprogramms präsentierte die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld am Dienstag, den 22. Oktober um 19 Uhr einen Vortrag mit Stefan Schmidt, Kapitän a.D. Im Sommer 2004 befand sich Stefan Schmidt als Kapitän des Hilfs- und Hospitalschiffs Cap Anamur im Rahmen eines Spendentransports auf dem Weg nach Afrika. Unterwegs rettete er gemeinsam mit seiner Mannschaft 37 in Seenot geratene Afrikaner und brachte sie anschließend nach Sizilien. In Italien kam er gemeinsam mit weiteren Beteiligten für fünf Tage ins Gefängnis und wurde wegen des Verdachts der Schlepperei angeklagt. Der Freispruch erfolgte erst 2009.
Für sein Engagement erhielt Stefan Schmidt zahlreiche Auszeichnungen, darunter die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga der Menschenrechte und den Georg-Elser-Preis. Stefan Schmidt ist Mitgründer der Nichtregierungsorganisation borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e. V. Seit 2011 ist er ehrenamtlicher Beauftragter des Landes Schleswig-Holstein für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen.
Zudem präsentierten Herma Heyken und Rainer Willmer von der Idee eines Rettungsschiffs der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie über die Initiative Seebrücke und die Bedeutung der Schaffung sicherer Häfen – auch mit Blick auf die Stadt Norden. Michael Lübbers, Arzt aus Marienhafe, berichtete von seinen ehrenamtlichen Sea-Watch Einsätzen.
2. Veranstaltung am Freitag, 6. Dezember 2019 (Besucherzahl: 32; moderiertes Zeitzeugespräch): „Flucht, Aufnahme, Erinnerung“ . Dr. Helmut Kirschstein, Superintendent und 1. Vorsitzender des Vereins, sprach mit Waltraut Teichert und Mohamad A. über ihre Erinnerungen an Flucht, Ankunft und Integration.
Waltraut Teichert, geb. 1940 in Elbing/Ostpreußen (heute: Elbląg/Polen), war noch ein Kind als sie mit ihrer Familie im Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee nach Westen flüchtete. Die Familie fand Aufnahme bei einer befreundeten Familie in Gräfendorf bei Torgau, obwohl der Bürgermeister des Ortes ihnen deutlich machte, dass sie nicht willkommen sind. Die Schrecken des Krieges und der ersten Nachkriegsmonate prägten sich tief in ihr Bewusstsein ein. 1956 floh Waltraut Teichert erneut – diesmal aus der DDR in die BRD. Waltraut Teichert machte ihr Abitur und wurde Grund- und Hauptschullehrerin. Nach ihrer Verrentung fand sie ihre Wahlheimat in Ostfriesland.
Mohamad A., geb. 1988 in Damaskus, wurde 2012 Zeuge eines Massakers der Syrischen Armee an Oppositionskämpfern und Zivilisten. Gezwungenermaßen brach er sein Jurastudium ab und flüchtete mit seiner Mutter und Schwester in den Libanon. Im Libanon lebten sie unter prekärsten Bedingungen. Ebenso waren sie als Flüchtlinge im Libanon Anfeindungen ausgesetzt. Über ein Programm der Vereinten Nationen war es der Familie schließlich möglich nach Deutschland zu kommen. Im Februar 2014 erreichten sie Ostfriesland. Inzwischen spricht Mohamad A. fließend Deutsch. Im Sommer 2019 begann er eine Ausbildung.
Das Zeitzeugengespräch war ein Beitrag, um Aspekte der deutschen Migrationsgeschichte nachzuvollziehen. Es sollte Lebenswege und Schicksale von Menschen sichtbar machen, die gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen mussten. Es sollte Empathie wecken und das gegenseitige Verständnis fördern.